

… die Geschichte von Alice, die dem Hasen mit der Uhr folgt, in den Kaninchenbau fällt und so ins Wunderland gelangt, hat mich immer fasziniert. Ich glaube, als Kinder waren wir alle mehrer. Wenn ich über meinen kleinen Raben nachdenke und sehe wie echt sie ist, fällt mir immer mehr auf wie viel von mir über die Jahre verloren gegangen ist. Wobei, verloren gegangen ist nicht die Wahrheit. Ich bin an gesellschaftlichen Rollenerwartungen zerbrochen und habe die Stückchen, die nicht mehr ins normierte Puzzle gepasst haben, auf dem Weg fallen lassen – ja, ich habe mein Mehr-Sein verloren, indem ich mich für die aufgegeben habe.

Mein Mehr-Sein aufgegeben, verleugnet, zu haben, ist leider gleichbedeutend mit mich selbst verleugnet und aufgegeben zu haben. Von außen betrachtet funktioniert das Ganze schon irgendwie – sie hat ihr Leben im Griff, kommt mit den Anforderungen der Gesellschaft zurecht und erfüllt immerhin zufriedenstellend die Rollenerwartungen. Aber zu welchem Preis? Ich habe vor Jahren eine Kurzgeschichte geschrieben, die mit folgendem Satz eingeleitet wurde: „Zuweilen beschleicht mich der Verdacht, mein Leben sei Multiple Persönlich. Nein, das ist nicht etwa ein Sprachgebrauchsfehler semantischer Natur, sondern eine recht nüchtern betrachtete Bestandsaufnahme.“
Ich glaube, damit habe ich den Nagel auf den Kopf getroffen. Der Text handelt davon, dass jede:r von uns mit unglaublich vielen, sich in Teilen widersprechenden, Rollenerwartungen konfrontiert ist, denen eine einzelne Person überhaupt nicht gerecht werden kann ohne daran zu zerbrechen. Sind wir also daran zerbrochen – und früher oder später wird genau das passieren, denn in unserem ganz persönlichen Zeitstrahl gibt es immer wieder Sollbruchstellen. Treten wir also nur fest genug auf der Stelle, knackt es -, hängt der weitere Verlauf davon ab, wie schnell wir es schaffen die Scherben einzusammeln und sie, mehr schlecht als recht, zurückzupuzzlen. Unser eigentliches Ich, das dabei zu Bruch gegangen ist, gibt es aber nicht als Schablone, also quetschen wir die Teile zurück in die normative Vorlage – dafür müssen Teile weiter zerbrochen und vielleicht sogar aussortiert werden … So oder so, was übrig bleibt, ist nur noch eine ziemlich mangelnde Version unseres ursprünglichen selbst, aber mit jedem Zerbrechen und Zusammenbasteln werden wir ein bisschen mehr zu dem, was die Gesellschaft von uns erwartet – nur unser Mehr-Sein, das bleibt dabei auf der Strecke.

Die Zeit sagt zu Alice „Kindchen, du kannst die Vergangenheit nicht verändern; aber ich wage zu sagen, dass du vielleicht etwas aus ihr lernst.“ – und wie sich herausstellt, hat er damit Recht. Auch wenn ich nicht die Möglichkeit habe der Zeit die Chronosphäre zu stehlen (wie gerne ich Alice wäre und einen Abstecher ins Wunderland machen würde), wage ich zu behaupten etwas aus der Vergangenheit lernen zu können. Während ich also über die letzten Jahre mein Mehr-Sein stückchenweise auf dem Weg verteilt habe, werde ich es mir jetzt zurückholen.
„Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht weißt, wer du bist, dummes Gör´“ (Absolem) – was ich, was wir alle, also wissen müssen ist, wer wir eigentlich sind oder wer wir sein wollen, ganz unabhängig davon, was andere von uns wollen. Die weiße Königin rät Alice „Man darf sein Leben nicht nach anderen richten. Du allein musst die Entscheidung fällen.“
Ich habe mich sehr sehr oft für andere entschieden und nie den Gedanken gedacht, dass ich selbst auch jemand bin, für den ich mich aktiv entscheiden kann und sollte. Damit bin ich, sehr sicher, nicht allein. Vermutlich fühlen sehr viele, dass sie diesen Gedanken nie ausreichend gedacht haben und dass man selbst die Person sein sollte, für die man sich entscheidet. Dass man selbst die erste Person sein sollte, an die man denkt, wenn man darüber nachdenkt, wen man liebt. Wie sollen wir jemand anderen lieben und uns für jemand anderen entscheiden, ohne daran zu zerbrechen, wenn wir uns nicht auch selbst lieben und für uns selbst entscheiden.

Mein 33stes Lebensjahr wird also eine Zeitreise zurück zu den Sollbruchstellen – ich werde all die Stückchen von mir, die ich unterwegs hab fallen lassen, einsammeln und zusammensetzen. Ganz ohne Schablone. Ich werde mein Mehr-Sein wieder finden. „Ich glaube manchmal bereits vor dem Frühstück an nicht weniger als sechs unmögliche Dinge.“ – das wird (wieder) mein Motto!
